- Hungertuch
- Am Hungertuch nagen: hungern, darben, ärmlich leben, sich kümmerlich behelfen. Das Wortbild geht auf das mittelalterliche Fastenbrauchtum der Altarverhüllung durch ein Fastenvelum zurück, das sich später zum Symbol des Fastens und der Buße wandelte. Wenn am Mittwoch der Karwoche das Wort aus der Passion erklang: ›et velum templi scissum est medium‹ – und der Vorhang des Tempels riß mitten durch –, wurde das Hungertuch ein – blauer oder schwarzer Vorhang – herabgelassen. In einer alten Beschreibung dieses Brauches aus Augsburg (›Germania‹ 17, S. 79f.) heißt es: »Darin (in der Fastenzeit) eszen sie 40 tag kein fleisch, auch nit milch, kesz, ayr, schmalz, dann vom remischen stuel erkaufft. Da verhüllt man die altar und hayligen mit einem tuech und last ein hungertuech herab, daz die syndige leut die götz nit ansehen«. In den Predigten Geilers von Kaysersberg über das ›Narrenschiff‹ heißt es: »Dich soll leren das Hungertuch, so man ufspannt, Abstinenz und Fasten« Der liturgische Brauch, während der Fastenzeit in den Pfarr- und Klosterkirchen des Abendlandes große, oft mit Passionsbildern geschmückte Tücher ursprünglich vor, später über den Hauptaltar zu hängen, ist bis auf das Jahr 1000 zurück nachweisbar. Das Volk nannte diese Velen ›Hungertücher‹, niederdeutsch ›smachtlappen‹, weil sie am Aschermittwoch den Beginn der Fastenzeit, die früher tatsächlich eine Hungerszeit war, anzeigten. 1472 stiftet der Zittauer Gewürzkrämer Jakob Gürtler zum Andenken an die jüngst verflossene Hungersnot der Johanniskirche ein Tuch, das gleichfalls den Namen ›Hungertuch‹ erhält.Im 16. Jahrhundert treten die Wendungen auf: ›am Hungertuch flicken‹ oder ›nähen‹. In einer Schrift über die Geldnöte in Deutschland nach dem Dreißigjährigen Krieg steht: »So hab ich auch ehrliche Freund, die wol ein stuck Brod zehren vnd anderen mittheilen können, wann jhnen anderwerts mit der Schuldigkeit auch beygehalten wurde, in deren verbleibung müssen Sie an dem hungertuch nähen«. Auch bei der heutigen Form: ›am Hungertuch nagen‹, die schon Hans Sachs und Fischart brauchen, ist ›nagen‹ wohl aus ›näjen‹ = nähen verdreht. Der Gedanke an die ursprünglich kirchliche Verwendung des Hungertuchs geht dann verloren: »denen an dem Hungerund Kummertuche nagenden creditoribus« (Eisenachische wöchentliche Nachrichten, 1753, Stück 25) und in Freiligraths Gedicht ›Aus dem Schlesischen Gebirge‹ von 1844:Dann trät' ich (der Weberssohn) froh ins kleine ZimmerUnd riefe: Vater, Geld genug!Dann flucht' er nicht, dann sagt' er nimmer:Ich web' euch nur ein Hungertuch.Während das kirchliche Fastenbrauchtum nach der Reformation in allen deutschen Landschaften allmählich einging, hielt man in Westfalen zäh an der Überlieferung fest, ja im Münsterland und am benachbarten Niederrhein begann noch Ende des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts eine neue Blütezeit der Hungertücher. Sie sind ein charakteristischer Beitrag Westfalens zur deutschen Volkskunst. Das Wort ›Hungerdoek‹ wird in Münster erstmals bereits im Jahre 1306 erwähnt. Der westfälische Volksmund sagt ›dat Hongerdoek ist fallen‹, die Fastenzeit ist beendet.Bei der Redensart ›Am Hungertuch nagen‹ wird freilich kaum noch an ihre ursprüngliche Herkunft gedacht. Doch ist sie bis in die Neuzeit hinein als sprachliche Wendung erhalten geblieben und sowohl im Märchen (Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm 85) als auch im Roman (G. Graß: Der Butt, 1977,416) literarisch belegt.• K. BRUNNER: Das Hungertuch in Telgte in Westfalen, in: Zeitschrift für Volkskunde 21 (1911), S. 321-332; O. URBACH: ›Am Hungertuch nagen‹, in: Muttersprache 52 (1937), S. 329-330; J. EMMINGHAUS: Die westfälischen Hungertucher aus nachmittelalterlicher Zeit und ihre liturgische Herkunft (Diss. Münster 1949); F. KOLLREIDER: Das Virgener Fastentuch im Osttiroler Heimatmuseum Schloß Bruck, in: Tiroler Heimatblätter 34 (1959), S. 98-101; P. ENGELMEIER: Westfälische Hungertücher vom 14. bis 19. Jahrhundert (Münster 1961).Hungertuch (›Am Hungertuch nagen‹). Hungertuch aus Telgte von 1623, Heimathaus Münsterland.
Das Wörterbuch der Idiome. 2013.