- Kerbholz
- Das Kerbholz oder der ›Kerbstock‹ war vor der Einführung schriftlicher Rechnungslegung das wichtigste Gerät zur Aufzeichnung von Lieferungen und Arbeitsleistungen. Aus dem modernen Wirtschaftsleben ist der Gebrauch von Kerbhölzern freilich verschwunden. Wenn auch das Wort ›kerb‹ für Kerbholz oder Kerbstock und ›kerben‹ erst im Mittelhochdeutschen nachweisbar ist, so kann doch an dem hohen Alter des Kerbholzgebrauchs nicht gezweifelt werden. Das Kerben aufs Kerbholz ist ein Rest ältester Buchführung. Es ist seit vorgeschichtlicher Zeit in Europa bezeugt und noch heute bei vielen Naturvölkern verbreitet. Ein Kerbholz bestand in der Regel aus zwei Teilen, die man durch Längsspalten eines Holzstabes gewann. Der größere Teil mit dem Griff hieß im Deutschen ›Stock‹ und der kürzere abgepaltene Teil ›Einsatz‹. In die beiden genau aneinandergehaltenen Teile wurden Kerben, die je nach ihrer Form bestimmte Mengen oder Leistungen ausdrückten, eingeschnitten. Den einen Teil des Kerbholzes erhielt der Gläubiger, den anderen der Schuldner (bzw. der Tagelöhner und der Arbeitgeber). Bei jeder Abrechnung wurden die beiden Teile schließend aneinandergelegt, wobei sich die Kerbschnitte genau entsprechen mußten. Die Kerben wurden eingeritzt, eingeschnitten, eingefeilt, eingesägt oder auch eingebrannt, sooft der Gebrauchsfall eintrat, und von Zeit zu Zeit durch gemeinsame Abrechnung und Bezahlung erledigt. Alsdann wurde das Holz ›abgekerbt‹, d.h. mit Messer, Hobel oder Feile wurden die Striche beseitigt. Justus Möser spendet 1778 in seinen ›Patriotischen Phantasien‹ (Band 2, S. 144) dieser einfachen, aber altbewährten Einrichtung hohes Lob. Im Geschäftsverkehr zwischen Bauern und Handwerkern, z.B. dem Schmied, war sie auf dem Lande bis ins 19. Jahrhundert hinein noch vielfach im Gebrauch. Zur Berechnung von Leistungen und Verpflichtungen im Sennereiwesen, etwa über den Milchertrag, ist sie zum Teil noch bis ins 20. Jahrhundert in Benützung gewesen. – Neben dem doppelten Kerbholz gab es auch das einfache Kerbholz, einfach ein Stab, in den jedesmal eine Kerbe gemacht wird, wenn eine Leistung usw. vollzogen ist.An die Verwendung des Kerbholzes zur Abrechnung von Schulden erinnern Wendungen wie: Einem etwas an ein Kerbholz schneiden; es ihm zur Schuld anrechnen; Es ihm ankerben: einem etwas ankreiden (⇨ Kreide); Sein Kerbholz ist voll: sein Sündenregister, das Maß seiner Schuld(en) ist voll; Bei jemandem auf dem Kerbholz stehen: ihm etwas schuldig sein. Bei Hans Sachs heißt es: »Borgen und schneiden und kerben, des möcht ein reicher Wirt verderben«. Die weitaus am häufigsten bezeugte Redensart istEtwas (viel, allerhand usw.) auf dem Kerbholz haben: große Schulden haben, übertragen: ein Vergehen begangen, etwas ausgefressen haben, nicht schuldlos sein. Ähnlich in den Mundarten, z.B. rheinisch ›he hät noch jet bei mir om Kerwholz (stohn)‹; schleswig-holsteinisch ›he steit bi em op'n Karfstock‹, wobei der Ausgangspunkt wohl der Gebrauch des Kerbholzes durch den Kredit gewährenden Gastwirt gewesen ist, was durch Wendungen wie An ein Kerbholz trinken: auf Rechnung trinken, bestätigt wird. Vgl. alemannisch ›uf de Bengel sufe‹, im Wirtshaus auf Kredit trinken.Jemanden auf dem Kerbholz haben: jemanden auf dem Gewissen haben, aber auch im Sinne von: Jemanden auf dem Kieker haben ⇨ Kieker. Nicht mehr üblich ist die aus dem 16. Jahrhundert bezeugte Redensart Aufs Kerbholz reden: etwas versprechen, ohne ernstlich an die Erfüllung zu denken; auch: blind darauf losreden. In Th. Murners ›Schelmenzunft‹ von 1512 handelt das 7. Kapitel von solchen ›Kerbrednern‹, die namentlich beim Adel, bei Kaufleuten und Kriegsknechten häufig seien, und bringt auch eine Abbildung dazu. Auch Wendungen wie aufs Kerbholz losleben, aufs Kerbholz lossündigen sind aus früherer Zeit bezeugt, d.h. die Wendungen sind von einer ursprünglichen Vielheit erst allmählich zur heutigen Form der Redensart erstarrt.• K. BRUNNER: Kerbhölzer und Kaveln, in: Zeitschrift für Volkskunde. 22 (1912), S. 337-352; R. WEISS: Das Alpwesen Graubündens (Erlenbach- Zürich 1941), S. 230ff.; K WEULE: Vom Kerbholz zum Alphabet (20. Auflage 1920); E. VON KÜNSSBERG: Rechtliche Volkskunde (Halle 1936); W. GAERTE:, Etwas auf dem Kerbholz haben;, in: Alt-Preußen 2 (1936), S. 38-39; K. BEITL: Das Klausenholz. Untersuchung der Gebetszählhölzer im vorweihnachtlichen Kinderbrauch, in: Rheinisches Jahrbuch für Volkskunde 20 (1969), S. 7-92; R. SCHMIDT-WIEGAND: Artikel ›Kerbholz‹, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte II, Spalte 701-703; H. SCHEMPF: Holzurkunden. Von der Verwendung von Kerbhölzern, Rowischen und Spänen, in: Volkskunst 12 (1989), H. 3, S. 19-22.›Kerbhölzer‹ (Walliser Tesseln). Walliser Tesseln, Sammlung Groß, Freiburg i. Br..An ein Kerbholz reden. Holzschnitt, Murner: Schelmenzunft, 1512.
Das Wörterbuch der Idiome. 2013.