Schatten

Schatten
Etwas (jemanden) in den Schatten stellen: eine Sache verdunkeln, gering erscheinen lassen, einen Menschen in seinen Leistungen übertreffen, ihn in den Augen anderer herabsetzen, ihn nicht ›im besten Licht erscheinen‹ lassen. Das entgegengesetzte ›beleuchten‹ bildet nicht auch bildlich einen Gegensatz, sondern meint ganz objektiv: ein reines (ungetrübtes) Urteil über etwas möglich machen, genau wie die Redensart ›Etwas ins rechte Licht rücken‹, Licht. Vgl. ndl. ›iemand in de schaduw stellen‹.
   In jemandes Schatten stehen: wegen anderer Personen nicht die rechte und verdiente Anerkennung finden. Vgl. auch niederländisch ›niet in iemands schaduw kunnen staan‹, französisch. ›vivre dans l'ombre de quelqu'un‹.
   Einen Schatten werfen auf jemanden: ihn in ungünstigem Licht, nicht untadelig erscheinen lassen; vgl. französisch ›jeter une ombre sur quelque chose‹.
   Man muß ihn an Schatten legen: man sollte ihn ins Gefängnis bringen. Diese euphemistische Umschreibung ist auch in den Mundarten üblich, so heißt es z.B. in Norddeutschland: ›He sitt in'n Schatten‹, er ist eingesperrt worden. Nicht über seinen Schatten springen können: seine Natur, sein Wesen nicht ändern, nicht verleugnen können, trotz aller Anstrengung etwas nicht fertigbringen, was der eigenen Persönlichkeit nicht entspricht. Der Schatten gilt im Volksglauben als Symbol der menschlichen Seele, die sich ebensowenig wie er vom Körper zu lösen vermag. Chamissos ›Peter Schlemihl‹ verkauft deshalb auch mehr als nur seinen Schatten. Weiter hat Lenau im Gedichtzyklus ›Anna‹ auf dieses Motiv zurückgegriffen sowie H. von Hofmannsthal in seinem Schauspiel: ›Frau ohne Schatten‹.
   Die Redensart wird gelegentlich zu einer sprichwörtlichen Sentenz umgeformt: ›Du sollst nicht über deinen Schatten springen!‹ und ist nun ein sittlicher Anspruch, ein Imperativ.
   Über seinen Schatten springen wollen: etwas Unmögliches vorhaben, sich grundlegend durch eine große Willensanstrengung ändern wollen, was für längere Zeit nicht durchführbar ist, ›über sich selbst hinauswachsen‹ wollen. Von einem Trunkenen, dem man alles zutrauen kann, heißt es scherzhaft: Er springt über den Schatten, Nach seinem Schatten springen, auch: Seinem eigenen Schatten nachlaufen: etwas Sinnloses tun.
   Den Schatten für den Körper nehmen: das Abbild für das eigentliche Wesen, eine Idee für die Wirklichkeit halten. Vgl. französisch. ›prendre l'ombre pour le corps‹.
   Etwas wirft seine Schatten voraus: ein großes Ereignis wird durch bestimmte, unheilvolle Vorzeichen angekündigt. Der Schatten spielte im alten Volksglauben eine doppelte Rolle. Das Wort ›Schatten‹ wurde häufig mit ›Schaden‹ gleichgesetzt. Der Schatten von Harzbäumen galt als fiebererregend, der Schatten fruchttragender Obstbäume aber als heilkräftig. In der Verkündigung an Maria findet sich eine ähnliche Vorstellung, wenn es bei Lk 1, 35 heißt: »Die Kraft des Höchsten wird dich überschatten«, d.h. der Schatten Gottes wird als fruchtbringend angesehen.
   Etwas wirft einen Schatten auf die Vergangenheit: von der Gegenwart her wird Vergangenes ungünstig beurteilt, oder: ein Makel aus früherer Zeit wird erkennbar.
   Einen Schlagschatten werfen: einen besonders kräftigen Schatten auf andere werfen; selbst im hellen Licht (der Öffentlichkeit) stehen und Vorzüge und Verdienste anderer nicht in Erscheinung treten lassen.
   Nach dem Schatten greifen: nach etwas Nichtigem, Vergänglichem streben. Vgl. niederländisch ›eene schaduw omhelzen‹.
   Nach dem Schatten greifen (und das Fleisch fallen lassen): in der Gier, noch mehr zu erlangen, alles verlieren. Die Wendung beruht auf einer Fabel, in der ein Hund das Stück Fleisch, das er in der Schnauze trägt, im Wasser gespiegelt sieht. Als er nach ihm schnappen will, verliert er beides. Ulr. Boner gibt in seinem ›Edelstein‹ einen deutschen Frühbeleg für diese Fabel (›Von einem Hunde der truog ein Stücke‹):
   Man list von einem hunde,
   der truog in sînem munde
   ein stücke vleisches, daz was grôz,
   des sîn geslechte nie verdrôz.
   an einen bach truog in sîn weg,
   dâ vant er weder brugg noch Steg,
   dâ was weder schif noch man:
   ze vuoze muoster über gân.
   do kam er mitten in den bach,
   den Schatten er des Fleisches sach,
   daz er in sînem munde truog.
   er sprach: »ich haete wol genuog,
   möcht ich daz stük zuo disem hân. »
   vil schiere er ginen began
   und wolt daz stük begrîfen:
   dô muoste im daz entslîfen,
   daz er in dem munde hât.
   dô stuont er leidig unde mat.
   daz er sîn stückl hât verlorn
   dur gîtekeit, daz was im zorn.
   der schatte in betrogen hât.
Vgl. niederländisch ›Hij grijpt naar de schaduw, en laat zich het vleesch ontvallen‹ und französisch. ›lâcher la proie pour l'ombre‹.
   Den Schatten fangen: statt einer wertvollen Sache eine nutzlose gewinnen.
   Um den Schatten eines Esels streiten: einen Prozeß wegen einer völlig nichtigen Angelegenheit führen. Vgl. auch französisch ›faire un procès, une querelle sur un pied de mouche‹, Esel.
   Mit seinem eigenen Schatten fechten: einen nur eingebildeten Feind bekämpfen, sich vergeblich anstrengen oder aufregen. Vgl. niederländisch ›Hij vecht met (tegen) zijne eigene schaduw‹, englisch ›to fight with one's own shadow‹ und französisch ›combattre son ombre‹. Ähnlich heißt es auch: Sich mit seinem eigenen Schatten zanken: sich selbst nicht leiden können.
   Schattenboxen betreiben: mit einem gedachten, eingebildeten Gegenüber kämpfen. ›Schattenboxen‹ ist eine bekannte chinesische Trainingsform, wobei der Gegner nur fiktiv gedacht ist.
   In Schwaben sagt man: ›Klag's em Schatte an dr Wand, so wird's niemand bekannt‹.
   Seinen eigenen Schatten fliehen: gesteigerte Angst empfinden, ganz natürliche Erscheinungen in einer Gespensterfurcht verkennen, sich ohne Ursache fürchten. Der Schatten spielte früher eine viel größere Rolle als heute im Zeitalter der Elektrizität. Durch das Fackel- oder Kerzenlicht entstanden in den nur schlecht ausgeleuchteten Winkeln der Räume riesige und bewegliche Schatten, die der Phantasie über unheimliche Wesen ständig neue Nahrung gaben und vieles bei der Sagenbildung erklären. In griechischer Form wurde diese Wendung schon bei Platon (427-347 v. Chr.) im ›Phaidon‹ gebraucht, in lateinischer Sprache bei Cicero (106-43 v. Chr.): »timere umbram suam«. Deutsch erscheint sie zuerst 1532 in der ›Namenlosen Sammlung‹ (Nr. 283): »Der fuercht sich vor seim eygen Schatten. Das sagt man von einem kleynmüthigen menschen«. Vgl. auch niederländisch ›Hij vlugt voor zijne schaduw‹.
   Ähnliche deutsche Wendungen sind noch: Sich vor seinem eigenen Schatten fürchten und Den Schatten an der Wand fürchten. Vgl. niederländisch ›Hij is bang voor zijne schaduw‹ und russisch ›den Schatten eines Riesen fürchten‹.
   Einem wie sein Schatten folgen: immer in der Nähe eines anderen bleiben, jeden seiner Schritte verfolgen, aufdringlich sein. Die Redensart wird im verächtlichen Sinne besonders auf solche Menschen angewandt, die fortwährend um andere herum sind, um etwas bei ihnen zu erreichen. In lateinischer Form wird die Wendung bereits von dem römischen Dichter Plautus (gest. 184 v. Chr.) gebraucht: »quasi umbra persequi«. Der Humanist Erasmus von Rotterdam schreibt in seinen ›Adagia‹ (3, 7) dafür: »velut umbra sequi«.
   Einen unter die Schatten seiner Flügel nehmen: ihn unter seinen persönlichen Schutz nehmen, so wie die Vögel ihre Jungen bei Gefahr. Die Wendung bezieht sich auf Ps 17, 8 und 57, 2. Vgl. auch niederländisch ›iemand onder de schaduw zijner vleugelen nemen‹.
   Ein Schatten seiner selbst sein: seine ehemalige Kraft und Gesundheit verloren haben, nur noch ein blasses Abbild seiner früheren lebensvollen, zukunftsbejahenden Persönlichkeit sein. Die Redensart wird heute besonders auf Kranke angewandt, deren auffallend schlechtes Aussehen mit ihrem Schatten verglichen wird, oder auf Menschen, die von Kummer und Sorgen gleichsam ›aufgezehrt‹ wurden. Unsere Redensart ist eigentlich ein Zitat aus der ›Pharsalia‹ des römischen Schriftstellers Marcus Annaeus Lucanus (39-65 n. Chr.), der darin den Bürgerkrieg zwischen Pompeius und Caesar schilderte. Von dem geschlagenen Pompeius schrieb er (I, 135): »Stat magni nominis umbra«, d.h. er steht noch da, nur noch der Schatten seines einst so großen Namens. Vgl. französisch. ›être l'ombre de soimême‹.
   Dem Schatten an der Wand gleichen: blaß und kraftlos sein. Dieser redensartliche Vergleich wurde früher besonders auf das veränderte Aussehen Liebender bezogen, die darunter litten, betrogen oder verlassen worden zu sein, und in ihrer Hoffnungslosigkeit wie unheilbar Kranke aussahen. In diesem Sinne ist die Wendung auch im Liederbuch der Hätzlerin im 16. Jahrhundert bezeugt, in dem es (II, 29, 15) heißt: »Dem schatten gleich ich an der wand«.
   Wie ein Schatten hinschwinden (vergehen): rasch immer kraftloser werden. Die Redensart gilt auch als bildliche Umschreibung für das langsame Dahinsiechen und Sterben; vgl. französisch ›disparaître comme une ombre‹.
   Einen Schatten haben: geistig nicht ganz normal sein.
   Im Reich der Schatten sein: gestorben sein. Nach antiker Anschauung war das ›Reich der Schatten‹ der Aufenthaltsort der Seelen in der Unterwelt, zeitlich; vgl. frz. ›être au royaume des ombre‹.
   Im 11. Gesang von Homers ›Odyssee‹ steigt Odysseus in die Unterwelt ins Reich der Schatten. Dort trifft er auch auf Achilles, der ihm bekennt: ›Lieber ein Bettler sein im Reiche des Lichts als ein König im Reiche der Schatten‹.
   Ein Schattendasein führen: ein kümmerliches Dasein fristen, ohne Lebensglück und Freude dahinvegetieren. Die Redensart bezieht sich entweder auf die antike Vorstellung vom Reich der Schatten oder auf den Vergleich mit einer Pflanze, die im Schatten nur schlecht gedeihen kann.
   Die Schattenseiten des Lebens kennenlernen: persönliches Mißgeschick erleiden, durch widrige Umstände ins Unglück geraten, eigentlich: ohne Sonne, d.h. ohne Glück, leben müssen; vgl. französisch ›les ombres de la vie‹.
   Ein Schattenkabinett aufstellen: von einer parlamentarischen Opposition für den Fall eines Regierungswechsels bereits die Mitglieder des neuen Kabinetts bestimmen.
   Ein bloßer Schattenmann sein: keine geachtete Persönlichkeit sein, einen Namen ohne Kraft, einen Titel ohne Macht führen, nicht für ›voll genommen‹ werden, voll.
• E.L. ROCHHOLZ: Deutscher Glaube und Brauch, Bd. I (Berlin 1867), S. 75 und 78-79; W.F. OTTO: Die Manen oder von den Urformen des Totenglaubens (Berlin 1923); E. ROHDE: Psyche. Seelenkult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen (Tübingen 10. Auflage 1925); I. PAULSEN: Die primitiven Seelenvorstellungen der nordeurasischen Völker (Stockholm 1958).}
Nicht über seinen Schatten springen können. Zeichnung von George Cruikshank (1792-1878).
Über seinen eigenen Schatten springen können. Karikatur von Haitzinger, 77. Aus: Badische Zeitung., Nr. 266, vom 18. Nov. 1977.
Schlagschatten werfen. Farblithographie von Grandville: G.W., Bd. 1, S. 62.
Die Schatten der Vergangenheit. Karikatur von Haitzinger vom 18.XII.90. Aus: Badische Zeitung., vom 20. Dez. 1990.
Nach dem Schatten greifen. Steinhöwel: Esopus, Fabel Von dem hund vnd stück fleisch.
Nach dem Schatten greifen. Gotische Buchmalerei, schwäbisch, um 1480.

Das Wörterbuch der Idiome. 2013.

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