Krokodilstränen

Krokodilstränen
Krokodilstränen weinen (vergießen): Rührung vortäuschen, erheuchelte Tränen vergießen. Die Redensart beruht auf der seit dem Mittelalter weitverbreiteten und in Sagen geäußerten Meinung, wonach das Krokodil wie ein Kind weint und damit Menschen anlockt, um sie zu verschlingen. Die Sage ist von den Harpyien, räuberischen Wesen aus der griechischen Mythologie, auf das Krokodil übertragen und wohl in den Zeiten der Kreuzzüge, wo derartige Wundererzählungen vielfach verbreitet wurden, in weitere Kreise getragen worden. Konrad von Megenberg schreibt in seinem ›Buch der Natur‹: »ain crocodill hat kain zungen ...,... wenn ez aines menschen ertoett, so waint ez in«.
   Der Bestiarius des Cod. Hamilton (77 fol. 16b) berichtet als erster von dieser letzten Anschauung: Hic dum invenit hominem si poterit eum vincere, comedit. Post et semper plorat eum. Die übertragene-Verwendung der Redensart von den Krokodilstränen als falsche, geheuchelte Beileidsbezeugung ist wohl zunächst im Humanistenlatein des 15. Jahrhunderts aufgekommen. Erasmus scheint für die Verbreitung der Redensart entscheidende Bedeutung gehabt zu haben; er erklärt in den Adagia (1500) h 3b: »Crocodili lachrimae: Crocodilus eminus conspecto homine lachrymare dicitur atque eundum mox devorat. Inde proverbii Crocodili lachrymae: in eosque se graviter feru simulant incommodum eorum, quibus ipsi incommodum attulerunt«. Dieselbe Bedeutung haben die Megarertränen, von denen Herodot (VI,58) spricht. Das Sinnbild vom tränenvergießenden Krokodil erscheint schon in dem um 1210 verfaßen ›Bestiaire Divin de Guillaume‹ und ist später immer wieder literarisch bezeugt, so in Rollenhagens ›Froschmeuseler‹ (159):
   Wie der Krokodil weinet,
   Wenn er einen zu fressen meint.
Aus der listigen Träne ist schon bei Luther die heuchlerische geworden, ebenso bei Leonh. Thurneysser 1583 (›Onomasticon polyglosson‹, S. 106): »... wann der Crocodil einen Menschen fressen will, weint er vorhin: also begint man auch von etlichen Leuten Crocodillen Threnen oder Zehren zu spüren, die einem gute wort geben, als ob sie mitleiden mit jhm haben, aber darnach (wann sie jhm die Zung aus dem Hals mit jhren gleißnerischen worten gezogen) einen verrahten und verkauffen«. Gehäuft in einem alten volkstümlichen Zwiegespräch zwischen Tilly, dem Feldherrn der Katholischen Liga im Dreißigjährigen Krieg, und der 1631 von ihm erstürmten Stadt Magdeburg:
   Juw (›Eure‹) Crocodillen Thränen,
   Juw söte Sinons Wort,
   Juw Judaskuß und Stehnen
   Wird b'kannt werden hier und dort.
Auch die Emblematiker haben sich des Bildes vom weinenden Krokodil angenommen; so hat es Joachim Camarius 1604 in seinem Buch ›Symbolorum et emblematum ex aquatilibus et reptilibus desumptorum centuria quarta‹ (Nr. 67) als Sinnbild heuchlerischer Freundschaft dargestellt. Im ›Mariamne‹-Trauerspiel des Barockdramatikers Joh. Christian Hallmann tritt zu dem verzweifelten König Herodes, der seine Verbrechen unter Tränen beklagt und bereut, der Geist der Mariamne, die er enthaupten ließ, und spricht:
   Verbluehme wie du wilt das Mord-Beil unsrer Glieder;
   Bau Thuerm auff unser Grab; stimm' an die Todten Lieder;
   Doch hilft / du Crocodil / dich nichts diss falsche Leid.
   Dir wird Gewissens-Angst und Schimpff und Spott bereit!
Der Ausdruck Krokodilstränen ist auch in außerdeutschen Sprachen bekannt (niederländisch ›Krokodilletranen‹; englisch ›crocodile tears‹; französisch ›verser des larmes de crocodile‹). Das Krokodil weint weder aus echter, noch aus erheuchelter Rührung. Verhaltensforscher haben jedoch festgestellt: Es sind vielmehr die jungen Krokodile, die kurz vor dem Ausschlüpfen aus dem Ei eine Art von Geschrei erheben. Die Krokodilsmutter wird dann sehr aggressiv gegenüber jedem Wesen, das sich ihnen nähert.
• LE BESTIAIRE. Das Thierbuch des normannischen Dichters Guillaume le Clerc, hg. von R. REINSCH (Leipzig 1892), Altfranzösischische Bibliothek 14, S. 294f., V. 1651-1670; A. DE COCK: ›To shed crocodile tears (Krokodillentranen)‹, in: Volkskunde 8 (1895-1896), S. 9-13; 22 (1911), S. 233-234; O. KELLER: Die antike Tierwelt 2 (Leipzig 1913), S. 260-270; H. BÄCHTOLD-STÄUBLI: Artikel ›Krokodil‹, in: Handbuch des Aberglaubens V, Spalte 598-599; SCHMIDT-NIELSEN und R. FANGE: Salt Glands in Marine Reptiles, in: Nature. A Weekly Journal of Science, Vol. 182, S. 783-785, Sept.,20 (1958); A. SCHOENE: Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock (München 1964), S. 69ff; V.B. DROSCHER: Mit den Wölfen heulen (Düsseldorf 1978), S. 13-16.}
Krokodilstränen weinen. Emblematischer Kupferstich mit Ansicht von Laun in Böhmen, aus: Meisner/Kieser Bd. II, Teil 2, Abbildung 26.
Krokodilstränen weinen. Karikatur von Haitzinger, 1975, aus: Bad. Zeitung o.A..

Das Wörterbuch der Idiome. 2013.

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