Spiegel

Spiegel
Der Ausdruck Spiegel wurde früher häufig in einem übertragenen Sinne gebraucht, indem man Werke pädagogischer oder moralischer Tendenz als Spiegel menschlichen Verhaltens bezeichnete. Diese Werke gaben meist Beispiel zu einer bestimmten ständischen oder religiösen Lebensführung, wie es z.B. noch der Begriff des ›Fürstenspiegels‹ ausdrückt oder auch heute noch in dem Wort ›Beichtspiegel‹ enthalten ist. Auch als Titel von Rechtsbüchern wurde das Wort Spiegel gebraucht, z.B. im ›Sachsenspiegel‹ oder dem ›Schwabenspiegel‹, die das geltende Recht und damit die Norm des Zusammenlebens angaben.
   Jemandem den Spiegel vorhalten: ihm zeigen, daß er auch mit menschlichen Fehlern behaftet ist. In diesem Sinne verwendet schon Sebastian Brant in der Vorrede zu seinem ›Narrenschiff‹ (V. 31-37) die Redensart:
   Den narren spiegel ich diß nenn,
   In dem ein yeder narr sich kenn:
   Wer yeder sey, wurt er bericht,
   Wer recht in narrenspiegel sicht,
   Wer sich recht spiegelt, der lert wol,
   Das er nit wis sich achten sol.
   nit uf sich haltten, das nit ist.
Sich etwas hinter den Spiegel stecken (Das kann er sich hinter den Spiegel stecken) stammt von der Gewohnheit her, daß man Glückwunschkarten, angenehme Briefe u.ä. mit einem Ende hinter den Spiegel steckte, um sie so ständig vor Augen zu haben. So heißt es in Gottlieb Wilhelm Rabeners Schriften (1777, Bd. 2, S. 81): »Ich lasse mir alle Morgen, wenn ich mir die Haare zurichte, ein Stück von Ihren Schriften vorlesen, welche ordentlich hinter dem Spiegel liegen«; dagegen bei A.F.E. Langbein (Sämtliche Schriften, 1835-37, Bd. 29, S. 39): »Ich will ihm ein Blättchen senden, das er gewiß nicht an den Vorhang heften soll«. Auch: »Das wird er nicht jeden Vorbeigehenden lesen lassen«. Die Redensart, die heute meist negativ (›Den Brief wird er sich nicht hinter den Spiegel stecken‹) gebraucht wird, kann sowohl in positivem wie in negativem Falle ausdrücken, daß man jemandem eine unangenehme Warheit sagt, beziehungsweise. ihm seine Meinung über ihn zu verstehen gibt.
   Spiegelfechten (Spiegelfechterei) wird schon früh in bildlichem Sinne für leeres Getue, Heuchelei, Betrug gebraucht. So heißt es im 16. Jahrhundert in Thomas Murners ›Narrenbeschwörung‹ (70, 66):
   Valsch und bschiß in allen landt
   Die geistlichkeit getrieben handt
   Und machent nun ein spiegelfechten.
Ursprünglich ist ›Spiegelfechten‹ ein Scheingefecht, eine Fechtübung vor dem Spiegel, wobei der Fechter die Genauigkeit und Gewandtheit seiner Bewegungen selbst im Spiegel prüfen konnte. Diese Übung ist kein ernster Kampf; darum hat man nach ihr dann leichtes Kriegsgeplänkel, dann auch Scheinangriffe, schließlich das Erwecken eines falschen Scheins als Spiegelfechterei bezeichnet. Diese Entwicklung begann schon im 16. Jahrhundert. So sagt Oldecop (9): »Und juwe spiegelfechten vor der gemeine, ift gi nicht wetten, we den geloven betaten schall und mot, is undüchtig«.
   Als Vorspiegelung eines wirklichen Kampfes, aber doch wohl in übertragener Bedeutung steht der Ausdruck bei Grimmelshausen (›Simplicissimus‹ III, 10): »Mein Bürschlein, es seyn keine Kinder darin (in der Festung), sie werden diesem Spiegelfechten nicht glauben«. Hier soll ein wirklicher Kampf vorgespiegelt werden, denn Simplex will durch Doppelhaken, Fässer u.a. Geräte die Feinde glauben machen, daß die Belagerer grobes Geschütz besäßen.
   Elsässisch ›in de Spegel lögn‹: auf dem Grundbuchamt Erkundigungen nach jemandes Vermögen einziehen.
   Kaum ein anderer Märchenvers ist so oft aus dem Zusammenhang gerissen zitiert und redensartlich gebraucht wie der aus dem ›Schneewittchen-Märchen‹:
   Spieglein, Spieglein an der Wand,
   Wer ist die Schönste im ganzen Land?
mit dem die Königin im Grimmschen Märchen (Kinder und Hausmärchen der Brüder Grimm 53) ihren Zauberspiegel befragt. Unzählige Male ist das Motiv auch in Cartoons und Werbung aufgegriffen und transformiert worden.
• E. BÖKLEN: Sneewittchenstudien (Leipzig 1915); G. RÓHEIM: Spiegelzauber (Leipzig – Wien 1919); BIELER: Artikel ›Spiegel‹, in: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens IX (Nachtr.), Spalte 547-577; G.F. HARTLAUB: Zauber des Spiegels (Stuttgart 1951); Anonym: Sich etwas nicht hinter den Spiegel stecken, in: Sprachpflege 10 (1961), S. 91; ST. S. JONES: The structure of Snow White, in: Fabula 24 (1983), S. 56-71; DERS.: The New Comparative Method: Structural and Symbolic Analysis of the Allomotifs of ›Snow-White‹ (= Folklore Fellows Communication 247) (Helsinki 1990); L. RÖHRICH: Wandlungen des Märchens in den modernen Bildmedien, Comics und Cartoons, in: Märchen in unserer Zeit, herausgegeben von H.-J. Uther (München 1990), S. ll-26.

Das Wörterbuch der Idiome. 2013.

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