Stirn

Stirn
Es steht ihm an der Stirn geschrieben: seine Gesinnung verrät sich schon durch seinen Gesichtsausdruck, man kann seine Gedanken ablesen. Ob ein Zusammenhang der Redensart mit dem Kainszeichen besteht, ist nicht sicher, doch läßt sie sich bis ins 15. Jahrhundert zurückverfolgen. Besonders bekannt geworden ist sie durch Gretchens Worte über Mephistopheles (›Faust‹ I, V. 3489), den sie rein gefühlsmäßig ablehnen muß:
   Es steht ihm an der Stirn geschrieben,
   Daß er nicht mag eine Seele lieben.
Ähnliche Wendungen sind: Man kann's ihm an der Stirn lesen (vgl. lateinisch ›ex fronte perspicere‹), Etwas an der Stirn tragen und, ins Negative gewendet, Es steht nicht alles auf der Stirn geschrieben: man kann nicht alle geheimen Gedanken erraten (vgl. englisch ›Every one's faults are not written on their foreheads‹), oder Es ist ihm nicht an die Stirn geschrieben wie den Schafen auf den Pelz und Nicht wissen, was hinter jemandes Stirne vorgeht.
   Aus der Bibel stammt die Redensart Eine eherne (eiserne) Stirn haben: sich nicht einem fremden Willen beugen, sehr hartnäckig sein. Bei Jes 48, 4 heißt es: »Denn ich weiß, daß du hart bist, und dein Nacken ist eine eiserne Ader, und deine Stirn ist ehern«. Ähnlich Etwas mit eherner (frecher) Stirn behaupten: etwas dreist behaupten.
   Bildlich wird Stirn für Kühnheit und Frechheit gebraucht. Seit dem 18. Jahrhundert begegnet deshalb die Redensart auch in verkürzter Form: Die Stirne zu etwas haben: die Unverschämtheit besitzen. Vergleiche französisch ›avoir le front‹. Die Redensart ist auch literarisch bezeugt, zum Beispiel schreibt Wieland 1794 (Sämtliche Werke Bd. XXII, S. 293):
   Was ist so arg, das nicht, um sich genug zu tun,
   Ein Weib die Stirne hat zu wagen?
Einem die Stirn bieten: jemandem harten Widerstand entgegensetzen.
   Einem die Stirn brechen: der gezeigten Hartnäckigkeit (Frechheit, Unverschämtheit) Gewalt entgegensetzen und sie besiegen.
   Nach seiner Stirn und Gehirn leben: nach seinem Kopfe leben, sich nicht beeinflussen lassen.
   Einen vor (für) die Stirn stoßen: ihn beleidigen und entmutigen, ihn grob abweisen, Kopf. Die Redensart ist alt, denn sie ist bereits bei Fischer im ›Psalter‹ (647, 1) bezeugt.
   Sich wie vor die Stirn geschlagen vorkommen, auch: Wie vor die Stirn geschlagen sein: durch das unerklärliche Verhalten eines Menschen oder durch ein unerwartetes Ereignis völlig verstört sein. Vergleiche auch siebenbürgisch-sächsisch ›E äs vuer de Stern geschlôn‹.
   Sich an (vor) die Stirn schlagen: seine eigene Dummheit einsehen und dies mit einer Geste des Unwillens ausdrücken. Vergleiche lateinisch ›ferire frontem‹.
   Sich an die Stirn greifen (müssen): etwas ist unglaublich, man kann nur den Kopf darüber schütteln.
   Du, greif dem mal an die Stirne!: mach ihm deutlich, daß er nicht recht gescheit ist, eigentlich: prüfe einmal nach, ob er vielleicht im Fieber spricht. In Sachsen zieht man deshalb nach der Berührung der fremden Stirn sofort die Hand zurück, als habe man sich dabei verbrannt, und fügt hinzu: ›Die ist aber heiß!‹
   Auch im Niederdeutschen greift man dem ›Fieberverdächtigen‹ an die Stirn, indem man ›Tschsch ...!‹ sagt. Man ahmt damit das Geräusch eines Wassertropfens nach, der auf eine glühende Herdplatte fällt.
   Nicht auf die Stirn gefallen sein: nicht dumm sein, Kopf.
   Seine Stirn runzeln über etwas: Mißfallen, Verdruß ausdrücken, etwas (moralisch) beanstanden. Vergleiche niederländisch ›Hij fronselt zijn voorhoofd‹; französisch ›froncer les sourcils‹ (wörtlich: Die Augenbrauen zusammenziehen).
   Er hat eine gelehrte Stirn: er hat eine Glatze, aber auch: er ist ein völlig unwissender Mensch, da ›gelehrt‹ scherzhaft für das eigentlich gemeinte ›geleert‹ steht.
   Für die euphemistische oder übertreibende Kennzeichnung der Glatzenbildung sind im 19. und 20. Jahrhundert humorvolle Wendungen besonders in den Großstädten entstanden: Die Stirn wächst in den Rücken hinein; Eine hohe Stirn bis hintenhin (bis in den Nacken) haben; Eine erweiterte (entlaubte, überhöhte) Stirn haben.
• BARGHEER: Artikel ›Kopf‹, in: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens V, Spalte 201-214.

Das Wörterbuch der Idiome. 2013.

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  • Stirn — Stirn, lat. frons, der obere Theil des Gesichtes, oben vom Haar, nach unten von den Augenbrauen und seitlich von den Schläfen begränzt. Die S. wird gebildet durch das muschelförmige, mehr od. weniger senkrecht gestellte Stirnbein, welches… …   Herders Conversations-Lexikon

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