Geschrei

Geschrei
Viel Geschrei und wenig Wolle: viel Aufhebens um einer unbedeutenden Sache willen; auch in mundartlichen Formen, z.B. ›me Geschrei als Wulla!‹ Niederländisch ›veel geschreeuw maar weinig wol‹; englisch ›great cry and little wool‹; französisch ›grande rumeur, petite toison‹ (veraltet); italienisch ›assai romore e poca lana‹. Sebastian Franck vermerkt: »Vil Geschreis, wenig Woll« (›Clügreden‹, Frankfurt 1541); Hans Sachs: »Es ist nur vil geschreis und wenig wöllen umb euch«. In der ›Zimmerischen Chronik‹ heißt es: »Es ist ein gross geschrai damit gewesen, iedoch, wie man sagt, wenig Wollen«; ›wie man sagt‹ bedeutet, daß der Ausdruck damals schon als stehende Redensart empfunden wurde. Abgewandelt heißt es bei Abraham a Sancta Clara: »Das heist vil Geschrey, wenig Ay« (›Judas‹, ›Lauber-Hütt‹). Philander von Sittewald sagt in den ›Gesichten‹: »Je mehr Wort, je minder Werk, je mehr Geschrei, je minder Woll, je mehr Geschwätz, je minder Herz, je mehr Schein, je minder Gold«. Einen Frühbeleg der Redensart bietet ein Fastnachtsspiel des 15. Jahrhunderts:
   Rhetorica die lert einen man,
   das er mit frauen wol reden kan,
   nicht ›viel geschreis und wenig wollen‹,
   als oft thun die narren und vollen
   (A. Keller: Fastnachtsspiele aus dem 15. Jahrhundert II, S. 743).
Das Bild der Redensart stammt nicht von der Schafschur, wie frühere Erklärer behaupten. Daß die Schafe beim Scheren nicht schreien, ist schon aus Jes 53, 7 zu lernen. Die Redensart ist vielmehr ursprünglich die Pointe einer Erzählung vom betrogenen Teufel (=Aarne-Thompson 1037). Die Colmarer Meisterliederhandschrift enthält die früheste Fassung dieser Erzählung:
   Geschreies vil und lützel wolle gap ein sû
   nu merke ouch dû:
   der tiuvel schars mit triuwen.
   do wart ez in geriuwen:
   ›du hâst al gar ertoubet mich,
   dir selber leit gebriuwen.‹
   er zerret ir ûf dô die hût,
   daz was ir ungelücke.
(d.h.: Eine Sau machte viel Geschrei und gab wenig Wolle, als der Teufel sie schor. Dieser, darüber ergrimmt, zieht ihr die Haut ab). Der Schluß zeigt Verwandtschaft mit dem Sprichwort ›Man soll die Schafe scheren und nicht schinden‹. Die Erzählung ist zum Teil auch in der Neuzeit noch als Volksüberlieferung verbreitet, so besonders in Nordeuropa und im Baltikum. Mehrere Varianten erwähnt Dähnhardt in seinen ›Natursagen‹, z.B.: Gott züchtete Schafe, der Teufel Schweine. Einst sah der Teufel, daß Gott seine Schafe schor. Er fragte, weshalb er das tue; Gott antwortete: er wolle sich aus der Wolle Kleider weben. Der Teufel versucht nun auch bei den Schweinen sein Glück, jagt sie aber bald zornig in den Kot, indem er ruft: Viel Geschrei, wenig Wolle! Vgl. niederdeutsch ›Vull Geschrei un wenig Wulle!‹ Seitdem hat das Schwein auf dem Rücken wenig Borsten (Lettland).
   Die Erzählung scheint sich zuerst zum Sagsprichwort verdichtet zu haben, um dann zur bloßen Redensart zusammenzuschrumpfen. Als Sagwort taucht die Wendung bereits in einer Sprichwortsammlung aus dem Jahre 1601 auf: »Viel Geschrey und wenig Wolle, sprach der Teuffel und beschor ein Saw« (Euchar. Eyering: ›Proverbium copia‹, Eisleben 1601, 3. Teil, 355). Nicht nur die Kurzform, sondern auch das Sagsprichwort hat eine stattliche Verbreitung über die deutsche Sprache hinaus. Wander gibt es schottisch, englisch, niederländisch, französisch und italienisch wieder. Volkstümliche mundartliche Versionen des Sagsprichworts finden sich noch in der Gegenwart, z.B. ›Me Gschrei als Wulle, het der Tifel gseit, wo-n- er e Sü b'schore het‹ (Schweiz); ›vel Geschri und wenig Wull, säd de Düwel un schert 'n Swin‹ (Ostpreußen). In humoristischer Abwandlung: ›Viel Geschrei und wenig Wolle, sagte der Teufel, und zog seiner Großmutter die Haare einzeln aus dem Hintern‹. Das Beispielsprichwort emanzipierte sich von der Erzählung, und damit wurde auch der Teufel vergessen; in anderen hoch- und niederdeutschen Varianten tritt an seine Stelle der Schäfer, der Schmied oder der Narr. Das dualistische Moment findet sich immerhin noch in Versionen wie französisch ›L'un tond les brebis et l'autre les pourceaux‹ oder niederländisch ›Ik scheer het schaep en de andere het verken‹. Die Illustration dieser Gegenüberstellung findet sich auf dem berühmten Redensartenbild des Pieter Bruegel sowie auch sonst mehrfach in der niederländischen Graphik und Plastik. Gegenüber dem Sagsprichwort stellt die heutige allgemein-umgangssprachliche Redensart eine weitere Schrumpfform dar, alle anderen Teile der ehem. Teufelserzählung sind auf der Strecke geblieben.
   In letzter Linie verwandt ist die bereits antike Redensart von der ›lana caprina‹, der Ziegenwolle, und der ›Wolle des Esels‹: ›Autres tondoient les asnes, et y trouvoient de lain bien bonne‹ (Rabelais: ›Pantagruel‹ V, 22).
   Jemanden ins Geschrei bringen: in üblen Ruf bringen.
• O. DÄHNHARDT: Natursagen (Berlin – Leipzig 1907ff.). Bd. I, S. 192; Bd. III, S. 10; W. FRAENGER: Der Bauern-Bruegel und das deut-
sche Sprichwort (Erlenbach – Zürich 1923), S. 147; E. SCHRÖDER: Rez. der 6. Auflage v. Borchardt-Wustmann, in: Deutsche Literatur Zeitung 1925/2, Spalte 2, 241; A. MEYER: Rund um das Sprichwort ›Viel Geschrei und wenig Wolle‹, in: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 41 (Basel 1944), S. 37-42; S. SINGER: Viel Geschrei und wenig Wolle, in: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 41 (1944), S. 159f.; DERS.: Viel Geschrei und wenig Wolle. Nachtrag (Basel 1944), in: Archives Suisses des traditions populaires, Bd. XLI, H. 3; L. RÖHRICH: Sprichwörtliche Redensarten in bildlichen Zeugnissen, S. 70; H. BÜLD: Niederdeutsche Schwanksprüche zw. Ems und Issel (Münster 1981), S. 23.
Viel Geschrei und wenig Wolle. Flämische Misericordiendarstellung.
Viel Geschrei und wenig Wolle. J. Cats and R. Farlie:, S. 201.
Viel Geschrei und wenig Wolle. Illustration by John Bewick, aus: John Trusler: Proverbs Exemplified, London 1790, Percival Collection, T 77 pr., Page 53.
Viel Geschrei und wenig Wolle. Detail aus dem Sprichwörterbild von P. Bruegel, 1559.

Das Wörterbuch der Idiome. 2013.

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