Gnade

Gnade
Vor jemandes Augen Gnade finden: (nach Prüfung) wohlwollend beurteilt werden. Die Redensart beruht auf der Vorstellung von der ›göttlichen Gnade‹, wie sie schon aus dem A.T. (insbesondere auch aus den Psalmen) und später aus dem N.T. (Röm 3, 21-31; 1 Kor 12-14) sowie aus vielen literarischen Zeugnissen der folgenden Zeit bekannt ist. Gnade (aus gi-nâda = Wohlwollen, Gunst) kann nur von der Obrigkeit geübt werden. Das ergibt sich z.B. auch aus dem Reichsabschied von 1526, in dem es heißt: »... damit sie der Gnade und Barmherzigkeit ihrer Obern grösser und milder dann ihre unvernünftig That ... spüren«. Für das Mittelalter handelte es sich letzten Endes immer um die Weitergabe der Gnade Gottes, wie sie auch enthalten ist in dem Begriff vom ›Gottesgnadentum‹ (= ›von Gottes Gnaden‹), eine Formel, die im Konzil von Ephesos 431 für Bischöfe und Priester formuliert und später auch von den weltlichen Herrschern beansprucht wurde.
   ›Gnade‹ ist demnach ein religiöser wie auch ein rechtlicher Begriff mit der Hauptbedeutung von ›Begnadigung‹, d.h. Minderung oder Erlaß einer Strafe aufgrund von göttlicher Heilszuwendung oder Huld des weltlichen Herrschers. Sie ist gleichzeitig Ausdruck dafür, daß das Recht nicht das einzige Regulativ im menschlichen Zusammenleben ist, und steht daher für das billige Ermessen und das ›gnädige‹ Wohlwollen des Herrschers. Dies hat sich auch in sprachlichen Wendungen niedergeschlagen, wie z.B.: ein Gnadengesuch einreichen, eine Strafe wird auf dem Gnadenwege erlassen, oder in begrifflichen Paarformen wie ›Gnade und Recht‹, ›Gnade und Barmherzigkeit‹, ›Gnade und Ungnade‹, die in zahlreichen Redensarten wiederzufinden sind. So auch in der Redensart Gnade vor Recht ergehen lassen, die heute oft scherzhaft verwendet wird.
   Dieses ›gnädig sein‹ des Herrschers verfestigte sich mit der Zeit zu Titulaturen wie ›Gnädiger Herr‹ oder ›Allergnädigster König‹. Wenn dann jedes Handeln eines Herrschers als ›gnädig‹ apostrophiert wurde, konnte es zu Auslassungen kommen wie: »Der König ... geruhte allergnädigst ... mit der allerhöchsten Ungnade zu bedrohen« (W. Chézy: Erinnerungen aus meinem Leben [Schaffhausen 1863], S. 188ff.).
   Offenbar hat es schon frühzeitig ein Rechtssprichwort gegeben, wonach Gewalt gnädig sein soll. Wir lesen bei Freidank: ›Swâ rîcher man gewaltic si, Da sol gnade wesen bî‹, und wir dürfen mit Singer annehmen, daß es schon vor Freidank ein Sprichwort mit diesem Gedankeninhalt gegeben hat, etwa in der Form: ›Gewalt ziemt wohl Gnade‹ (ähnlich Ulrich von Lichtenstein: ›Frauendienst‹) oder ›Gewalt soll Gnade han‹ (so die ›Appenzeller Chronik‹, 1478). In gedanklichem Zusammenhang damit stehen das Lehnsprichwort ›Strenges Recht ist das größte Unrecht‹ und der Satz ›Eitel Gnade ist die größte Ungnade‹, von dem es freilich nicht erwiesen ist, ob er sprichwörtlich ist, ferner die Wendungen, daß die Gnade den Vorrang habe vor dem Recht, und schließlich der ebenfalls einem Sprichwort gleichende Satz ›Es ist besser zuviel Gnade denn zuviel Strafe‹, was wir alles bei Luther lesen (Luther, Auslegung des Ps 101, Werke 51, S. 206). Die uns gewohnte Form ›Gnade geht vor Recht‹ hat die ›Zimmerische Chronik‹ (IV, S. 314): »die gnade gehet furs recht«. All das reimt sich sehr wohl mit der großen und weitverbreiteten Bedeutung zusammen, die die Gnade, das Richten nach Gnade, das Gnadenbitten im älteren deutschen Strafrecht gehabt hat; ebenso literarisch, insbesondere die berühmte Stelle über die Gnade bei Shakespeare, im ›Kaufmann v. Venedig‹ IV, 1. Man braucht aber keineswegs nur an die Gnade im Strafrecht zu denken, sondern auch an Gnadenbeweise – Ehren und Schenkungen –, die der König seinen Getreuen angedeihen ließ.
   Das Motiv begegnet des öfteren auch im Märchen, z.B. in Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm 12, 36 und 192. Im Volksmund führte es zu ergänzenden Redensarten, in denen der Begriff Gnade im Sinne von Wohlwollen bzw. Erbarmen verwendet wird, so z.B. in der Bekräftigungsformel: aus Gnade und Barmherzigkeit, d.h. aus Wohlwollen und Mildtätigkeit, Gnadenbrot, Gnadenbrot.
   Sich auf Gnade und Ungnade ergeben: sich bedingungslos dem Sieger ausliefern, gleich ob er Gnade walten läßt oder Strafen verhängt, wobei man freilich letztlich auf Milde hofft. Diese Redensart ist seit dem 15. Jahrhundert literarisch belegt und von besonderer Bedeutung durch die Gegenüberstellung von Recht und Gnade. Die jüngere Vorrede zum Rüstringer Recht spricht davon, daß die Gnade größer sei als das Recht (hg. v. Buma-Ebel [1963], 26), das Stadtrecht von Wiener Neustadt (hg. v. G. Winter [1880], Artikel 62) davon, daß »der streng der gerechtigkeit sol pilleich volgen etzleich senft und güt der genaden«. Andere Rechtsquellen betonen deutlich, daß etwas ›von gnaden unde nut von rechte‹ geschieht (›Schwabenspiegel‹, Artikel 57). Das älteste Soester Stadtrecht (Keutgen: Urkunden 1901, Nr. 139, Artikel 6) meint das gleiche, wenn es das Gericht des Präpositus entscheiden läßt: »vel per iusticiam vel per misericordiam«, d.h. nicht nach dem Recht, sondern aus Mitleid und Erbarmen, wie es auch die Zwillingsformel ›aus Gnade und Barmherzigkeit‹ zum Ausdruck bringt. Das bedeutet freilich nicht den völligen Ausschluß des Rechts. Es ist nur nicht die maßgebende Leitlinie.
   Eine schöne, aber kalte und liebeleere Frau ist ein Bild ohne Gnaden, im Gegensatz zu dem Muttergottesbilde, zu dem man betet: ›Du bist voller Gnaden‹; Bild.
   Sich eine letzte Gnade erbitten: vor der Hinrichtung noch einen Wunsch äußern dürfen. Die zum Vollzugsritual der früher bei uns üblichen Todesstrafe gehörende formelhafte Wendung begegnet noch immer im Märchen. Um eine Neuerung handelt es sich bei dem Ausdruck Gnade der späten Geburt, Geburt.
• K. BEYERLE: Von der Gnade im deutschen Recht (1910); K. SCHUÉ: Das Gnadebitten in Recht, Sage, Dichtung und Kunst, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 40 (1918); WEIZSÄCKER: Volk und Staat im deutschen Rechtssprichwort, in: Aus Verfassungs- und Landesgeschichte, Festschrift zum 70. Geburtstag von Theodor Mayer, 2 Bde. (Lindau – Konstanz 1954/55), Bd. I.; N.J. HEIN: Artikel ›Gnade‹, in: Religion in Geschichte und Gegenwart II (3. Auflage 1958), Spalte 1630-1647; H. KRAUSE: Artikel ›Gnade‹, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte I, Spalte 1714-1719; H.-J. UTHER: Artikel ›Letzte Gnade‹, in: Enzyklopädie des Märchens V, Spalte 1324-1331.

Das Wörterbuch der Idiome. 2013.

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  • Gnade — Gnade: Mhd. g‹e›nade »Rast, Ruhe; Behagen, Freude; Gunst, Huld; ‹göttliche› Hilfe, ‹göttliches› Erbarmen«, ahd. gināda »‹göttliche› Hilfe, ‹göttliches› Erbarmen«, niederl. genade »Gnade«, aisl. nađ »Ruhe; Frieden; Schutz; ‹göttliche› Gnade«… …   Das Herkunftswörterbuch

  • Gnade — Gnade, 1) Zuneigung; 2) wohlwollende Gesinnung Höherer gegen Niedrige, worauf diese keinen Anspruch zu machen haben; 3) die Bethätigung dieser Gesinnung, besonders von Seiten des Fürsten (od. in Republiken der höchsten Staatsgewalten), welche… …   Pierer's Universal-Lexikon

  • Gnade — (lat. Gratia), im allgemeinen jedes Wohlwollen des Höhern gegen den Niedern, insbes. die Machtvollkommenheit des Souveräns, insofern sie Vergünstigungen zuteil werden lassen kann, auf die kein Rechtsanspruch besteht. Namentlich im Strafrecht ist… …   Meyers Großes Konversations-Lexikon

  • Gnade — Gnade, althochdeutsch Ginada, von nidan: herablassen, bezeichnet die Herablassung des Höhern gegen den Niedern, in welchem Sinne die Ausdrücke: Euer G.n, gnädige Frau u. dergl. als Titel für Adelige vielfach gebräuchlich sind. In der engern… …   Herders Conversations-Lexikon

  • Gnade — Sf std. (8. Jh.), mhd. g(e)nāde, ahd. gināda, ginādī, as. ginātha Stammwort. Aus g. * (ga)nǣþōn f. Wohlwollen, Gunst , auch in anord. náđ (möglicherweise entlehnt, dann ist das Wort ursprünglich nur deutsch), afr. nēthe. Kann ein Verbalabstraktum …   Etymologisches Wörterbuch der deutschen sprache

  • Gnade — Unter Gnade versteht man eine wohlwollende, freiwillige Zuwendung. In der christlichen Theologie ist die göttliche Gnade (lat. gratia, griech. charis) ein zentraler Begriff, besonders im Zusammenhang mit der Erlösung. Inhaltsverzeichnis 1… …   Deutsch Wikipedia

  • Gnade — 1. Auf die Gnade grosser Herrn folgt Gift und – Tod gar gern. *2. Besser gnad dann recht, sagen alle fromme Knecht. – Henisch, 1671, 30; Petri, II, 37. 3. Besser ist gnad, dann recht. – Franck, II, 178a; Gruter, I, 8; Eyering, I, 214. 4. Das ist… …   Deutsches Sprichwörter-Lexikon

  • Gnade — Gunst; Erbarmen; Mitleid * * * Gna|de [ gna:də], die; : 1. mit Herablassung gewährte Gunst eines sozial oder gesellschaftlich Höhergestellten gegenüber einem sozial Tieferstehenden: jmdm. eine Gnade erweisen, gewähren; von jmds. Gnade abhängen. 2 …   Universal-Lexikon

  • Gnade — Gna̲·de die; , n; 1 nur Sg; das Wohlwollen gegenüber einem sozial oder beruflich Schwächeren (das oft auf arrogante Weise zum Ausdruck gebracht wird) <jemandem einen Beweis seiner Gnade geben; von jemandes Gnade abhängen> || K : Gnadenakt 2 …   Langenscheidt Großwörterbuch Deutsch als Fremdsprache

  • Gnade —    (althochdeutsch ”ganada“ =Wohlwollen, Gunst; griech. ”charis“, lat. ”gratia“) als theol. Begriff bezeichnet die sich aktiv, frei u. absolut ungeschuldet dem Menschen zuwendende Zuneigung Gottes sowie die Wirkung dieser Zuneigung, in der Gott… …   Neues Theologisches Wörterbuch

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