Kirmes

Kirmes
Eine große Zahl von sprichwörtlichen Redensarten bezeichnet den Sonnenregen. Man sagt, wenn es regnet und die Sonne scheint: ›Dann ist in der Hölle ein Festtag‹ (Oldenburg), ›Hochtid‹ (Friesland), ›Kirmes‹ (Westfalen, Rheinland). Diese Version bestätigt auch der älteste seither bekannte historische Beleg: ›Wenn die Sonn scheinet vnnd zugleich regnet, so ist in der Hölle Kirchweih‹ (Christ. Lehmann: ›Florilegium Politicum‹, 1630, 334: 32; J.M. Sailer; ›Die Weisheit auf der Gasse‹, 1810, 179). Andere Versionen sind: ›Man backt in der Hölle‹, ›De Düwel backt Pannkok‹ (Oldenburg), ›Der Düwel hält Schottelplacken feil‹ (Rheinland), ›Frau Holle hat Kirmes‹ (Niederrhein), ›Die Heiden haben Hochzeit‹ (Schweiz), ›De Düwel danzt mit sin Grotmudder‹ (Kreis Winsen), ›De Düwel hat Hochtied‹ (Der Teufel hat Hochzeit; Schleswig-Holstein), ›Der Teufel stattet seine Töchter aus‹ (Mecklenburg). Den Sonnenregen hat man vielfach als ein Ringen zwischen Regen und Sonnenschein gedeutet, und in verschiedenen Gegenden sind verschiedene Bilder zur Illustrierung dieses Kampfes entstanden; in Deutschland: ›Der Teufel prügelt sein Weib, seine Großmutter, Schwiegermutter‹ (Bayern, Österreich).›... s kröigt d'Teufelin Schläg‹ (Die Teufelin kriegt Schläge; Egerland). ›Der Düwel stickt sin Wif mit'n Dägen‹ (Der Teufel sticht sein Weib mit einem Degen; Celle), ›Der Teufel hat seine Mutter erhenkt‹ (Mosel), ›De Düwel kloppt sin Grossmudder‹ (Lüneburg). Das geschlagene Objekt war ursprünglich die Frau des Teufels (nicht die Großmutter; Teufel). Sie erscheint in dieser Stellung in der Überlieferung von 26 Völkern, wobei es für die Tradition aufschlußreich ist, daß es sich gerade um einen Ehestreit handelt. Schon Joh. Praetorius kennt die Wendung »Donnerts und die Sonne scheint dazu: der Teufel schlägt seine Mutter, daß sie öl (= Bier) gibt« (J. Praetorius: ›Blockes Berges Verrichtung‹, Leipzig 1668, 2, 113). Die Redaktion ›Der Teufel schlägt seine Frau‹, schon im 17. Jahrhundert sowohl in Frankreich (›le diable bat sa femme‹), Holland (›de duivel slaat zijn wijf‹) als auch in Deutschland feststellbar, dominiert heute in der ganzen englisch-sprechenden Welt (›the devil is beating his wife‹), ebenso im Gebiet des alten Österreich-Ungarn; dennoch ist es nur eine späte, allerdings außergewöhnlich expansive Redaktion der Teufelshochzeits-Tradition.
   In Schleswig-Holstein und in Oldenburg hat sich (ebenso wie in Dänemark) anscheinend auf der Grundlage der scherzhaften Redensart ›He is dem Düvel ut der Bleke lopen‹, die eine braune Gesichtsfarbe meint, die örtliche Redaktion ›Der Teufel bleicht seine Großmutter‹ herausgebildet. (›De Düvel bleket sin Möm‹, ›De Düwel hett sin Grotmuder up de Blêk‹). Zum Bleichen von Wäsche gehört wiederholtes Anfeuchten im Sonnenschein, so daß dieses Bild gut zu der Naturerscheinung paßt.
   Andere Redensarten bringen den Sonnenregen in Beziehung zu einer Hexe: ›Die Hexen tanzen‹, ›De ool Hex backt Pannkoken‹ (Die alte Hexe backt Pfannkuchen; Schleswig-Holstein), ›Die Hexen buttern‹ (Schlesien), ›Die Hexen werden am Ende der Welt begraben‹ (Nordfriesland). Man könnte glauben, daß die Wendungen von Teufelshochzeit und Hexentanz mit den Vort stellungen vom drastischen Hochzeitsritual des Teufels und der Hexen, d.h. mit dem sog. Hexensabbat, verflochten seien. Aber es ist bemerkenswert, daß, obwohl Hexe wie Teufel äußerst häufige Subjekte in der Sonnenregentradition des europäischen Festlandes sind, keine einzige Variante auf eine Buhlschaft zwischen ihnen hindeutet. Vielleicht darf man daraus folgern, daß die Dämonenredaktionen der Sonnenregentradition bereits entstanden und in der Hauptsache herausgebildet waren, bevor die Vorstellung von der Teufelsbuhlschaft eine zentrale Stellung in der christlichen und volkstümlichen Dämonologie erlangt hatte.
   In Mecklenburg sagt man ›Nu ward'n Hurkind makt oder süss ward en döfft‹ (Nun wurde ein Hurenkind gemacht oder getauft). In Westfinnland heißt es, daß eine Hure Hochzeit feiert. Die Hurenhochzeit oder Hurenkindredaktionen beschränken sich auf den Ostseeraum. Humoristisch ist die rheinische Version: ›Ene Leutenant bezahlt seng Scholde‹ (Ein Leutnant bezahlt seine Schulden); ähnlich in Lüneburg: ›s kummt'n Edelmann in'n Himmel‹ (Ein Reicher kommt nach der Bibel bekanntlich schwerer in den Himmel); ›Nu kümmt'n Snider in'n Himmel‹ (Es kommt ein Schneider in den Himmel; Schleswig-Holstein, Sachsen); ›De Düwel kriggt'n Advokatenseel‹ (Oldenburg).
   In völlig andere Anschauungen verweist: ›Der Wolf hat das Fieber‹, ›Nu deiht den Wulf de Buk weih‹ (Nun tut dem Wolf der Bauch weh), ›Nu pissen de Wülw‹ (Mecklenburg).
   Ähnliche an die Situation des Sonnenregens gebundene Paraphrasen gibt es in den verschiedenen Erdteilen in erstaunlicher GIeichheit des Strukturschemas und doch mit großer Variabilität innerhalb eines und desselben Landes: In Japan, Brasilien und Finnland heißt es, daß bei Sonnenregen der Fuchs Hochzeit feiert. In der Türkei sowie in Mexiko und Estland spricht man vom Gebären der Wölfin. Auf den Philippinen sowie in Chile und Rumänien sagt man, daß der Teufel schlägt oder sich prügelt. In Polen, Irland und Schweden buttern die Hexen. In der Türkei spricht man vom Schakalregen, in Finnland vom Fuchsregen, in der Ukraine und in Österreich vom Sauregen, in Deutschland vom Hasenregen, in Japan vom Hochzeitszug der Füchse. Die Spanier nennen den Sonnenregen ›Zigeunersonne‹, die Weißrussen und die Finnlandschweden ›Zigeunerregen‹. Kulturhistorisch besonders interessant sind die redensartlichen Paraphrasen bei den skandinavischen Völkern; man sagt: ›Die im Wasser Ertrunkenen trocknen ihre Kleider‹ (Dänemark, Norwegen, ebenso Polen), ›Im Totenreich trinkt man bei der Hochzeit‹ (Finnland), ›Die Mäuse feiern Hochzeit‹ (Südfinnland). Auch in Nordeuropa findet sich vielfach eine Dämonisierung der Tradition: ›Die Trolle tanzen, waschen, baden, buttern usw.‹ (Schweden), ›Der Fuchs badet‹ (Finnland), ›Die alten Jungfern werden geheiratet‹ (werden begraben, schlagen sich, werden gebadet, verjüngt, baden auf dem Blocksberg, südliches Finnland). Diese Redaktionen darf man wohl mit dem Brauch der ›Totenhochzeit‹, d.h. den Bräuchen bei der Bestattung von Ledigen, in Verbindung bringen.
   Der finnische Forscher M. Kuusi hat etwa dreitausend Varianten von Redensarten gesammelt, die alle die seltsame scheinbare Naturwidrigkeit illustrieren, in einer weltweit verbreiteten Widerspruchssymbolik. Es ist die Frage: Was ist in diesem reichen Material primär, was sekundär? Woher kommt diese merkwürdige Einheitlichkeit und zugleich Unterschiedlichkeit?
Handelt es sich um eine genetisch zusammengehörige Tradition, oder ist Polygenese zu vermuten, d.h. daß die gleiche Menschennatur überall gleiche Vorstellungen schafft? Die Chronologie der historischen Belege ergibt keine Verbreitungshinweise, da die Streuung der Sonnenregentradition schon zu Beginn der Neuzeit fast ebensoweit entwickelt war wie im 20. Jahrhundert, und daß somit hinter den ältesten europäischen Aufzeichnungen höchst wahrscheinlich ein tausendjähriger, vielleicht vieltausendjähriger Weg der Ausbreitung und Wandlung der Überlieferung steht. Kuusi hat erstmals die »Weltgeschichte einer Redensart« versucht, da offensichtlich die große Mehrzahl der Varianten einen gemeinsamen Stammbaum hat. Außergewöhnliche Naturerscheinungen (so auch Wirbelwind, Hagel, Regenbogen, Nordlicht, Sternschnuppen) werden redensartlich mit seltsamen Situationen zusammengebracht. Neben bloßen Scherzfiktionen, wie dem Schuldenbezahlen eines Leutnants u.a. neckenden Kommentaren zu unglaublichen Ereignissen, gruppieren sich bestimmte Motive, die die Idee einer paradoxen Verbindung illustrieren, wie sie dem Sonnenregen als einer Kombination entgegengesetzter Naturelemente eigen ist: Streit und Kampf, gleichzeitiges Verheiraten der Tochter und Schlagen der Frau, Hungersnot eines Königs, gemeinsames Bad von Teufeln und Engeln, Heirat ungleicher Partner, wie zwischen Fuchs und Nachtigall, Lächeln durch Tränen mit verschiedenen Anpassungen an regionalen Volksglauben (Frau Holle, Trolle, Hexen usw.). Die theriomorphen Redaktionen dominieren in Asien und Afrika, außerdem aber im Mittelmeerraum und nordwestlich der Ostsee. Und zwar dominieren die Tierhochzeitsredaktionen zahlenmäßig und verbreitungsmäßig: Fuchs- und Schakalhochzeit, Bären- und Wolfshochzeit. Zu den altertümlichsten Versionen gehören die Fuchshochzeit- und Totenhochzeitredaktionen. M. Kuusi versucht den Nachweis der ursprünglichen Zusammengehörigkeit aller Sonnenregen-Paraphrasen, von denen sich eine aus der anderen entwickelt hat, wobei die Vorstellung von der Fuchshochzeit zum ursprünglichsten Bestand gehört. Kuusi vermutet, daß Indien das erste Gebiet war, wo der Sonnenregen als Fuchshochzeit gedeutet worden ist.
   Daß der Ausdruck Kirmes in der Hölle in Deutschland noch im anderen Sinnzusammenhang gebräuchlich gewesen sein muß, beweist seine Verwendung in einem Brief Martin Luthers (Dr.M. Luthers Briefe, hg. v. De Welte und Seidemann, Band IV, S. 618): »Oder wird etwa Kirmes in der Hölle sein, daß der Teufel so lüstern ist mit larven?«
• J. GRIMM: Deutsche Mythologie, Nachdruck der 4. Ausgabe (Tübingen 1953), Band II, 842f., III. 297; M. KUUSI: Regen bei Sonnenschein. Zur Weltgeschichte einer Redensart, Folklore Fellows Communications 171 (Helsinki 1957).

Das Wörterbuch der Idiome. 2013.

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