Schnur

Schnur
Über die Schnur hauen: übertreiben, zu weit gehen, über den angemessenen Rahmen hinausgehen, das rechte Maß überschreiten; vgl. französisch ›tailler au cordeau‹.
   Die Redensart bezieht sich ursprünglich auf die Schnur, die ein Zimmermann spannt, um einen Balken gerade zu behauen. Um die Schnur nicht zu beschädigen, wird sie zumeist mit roter oder weißer Kreide oder mit feuchter, zerstoßeuer Holzkohle eingefärbt und senkrecht auf das zu bearbeitende Holz abgeschnellt, wodurch eine gerade Linie entsteht. Schlägt der Zimmermann über die Schnur hinaus, so verdirbt er möglicherweise den ganzen Balken, und doch muß er stets unmittelbar an der Schnur entlanghauen. So kennzeichnet die Redensart treffend, wie ein selbst geringfügiges Hinausgehen über das zulässige Maß großen Schaden bewirken kann (daher auch ›sich verhauen‹, sich vertun).
   In einem Fastnachtsspiel des 15. Jahrhunderts werden bestimmte verwerfliche Praktiken in unsere Redensart gekleidet:
   der official ist kumen her
   und wil verhörn man und frauen,
   ob iemant über di schnur het gehauen
   mit spil, mit wucher, mit feir zusprechen
   und was das gaistlich recht schol rechen.
   (Fastnachtsspiele des 15. Jahrhunderts, ed. Keller, 769, 6).
Sebastian Franck rät in seiner Sammlung: »Stateram ne transgredieris« (1541): »Ubermache nit, haw nit über die Schnur«.
   Luther gebraucht gern, »über die Schnur fahren«: »wie mag ich mich gewis versehen, das alle meine werck gott gefellig sind, so ich doch zu weilen falle, zu viel rede, esse, trincke, schlaffe, oder je sonst über die schnur fare, das mir nicht müglich ist zu meiden?« (Luther I, 230a).
   Oft wird noch erläutert, ob mehr oder weniger weit über das rechte Maß hinausgegangen wurde, so z.B. bei Hans Sachs (›Gedichte‹ Bd. I, 1558, 542c):
   Grob hab ich ubert schnur gehawt,
   Derhalb man mir auch nit mehr trawt,
und in der ›Zimmerischen Chronik‹ (Bd. II, S. 113, Z. 23-29): »Do befliße sich menigclich, das dem doctor der durst würde gelescht, und wiewol er ungern sich im trunk einließe, dann es war nur eitel weishait und vernunft umb in, iedoch ließe er [durch] die guete wörtlin sich dohin bringen, das er weiter, dann sein brauch, über die schnur heube und nit ußerm haus kommen kont, sondern sich uf den nechsten bank legte schlaffen«.
   Daß das Bild vom Zimmermann mit seiner Schnur von Predigern des späten Mittelalters gern verwendet wurde, verwundert nicht, ließ es sich doch unschwer allegorisch ausdeuten: »was das bleyscheid und rechte kirchenschnur unnd masz belanget, sollet jr wissen, das der propheten und apostel lere, unser richtschnur unnd bleywoge und rötelstein ist, darnach wir alle andere abrisz oder muster in der kirchen abmessen sollen, auff das wir bawleut nicht über dise Schnur hawen, oder den kirchenbaw nicht ungerad auffüren,... denn der propheten und aposteln schnur und rötelstein, rötet und weiset uns auffs blut unnd wunden Jesu Christi, disz ist das einige löszgelt und bezalung für unsere sünde« (Johannes Mathesius, Sarepta ..., 1571, 98b).
   Von der Aufschneiderei ist die Rede in der ›Continuatio des abentheuerlichen Simplicissimi‹ (14. Kap.): »... wann ich aber verständige Leut vor mir hatte / so hiebe ich bey weitem nit so weit über die Schnur«. Von der Schlemmerei dagegen in den ›Nuptialia‹ des H. Creidius (Bd. II, 214): »allein wie die masz zu allen dingen gut ist, so soll man auch sehen, dasz man hie (beim Hochzeitsmahl) nicht über die schnur haue, und etwa das hertz beschwere mit fressen und saufen«.
   Entweder in bewußt umgedeuteter oder aber mißverstandener Form findet sich die Redensart bei Abraham a Sancta Clara: »Die Kutscher oder Fuhrleut seind sonst solche Leut, welche nicht allein mit der Geißel umgehen, sondern gar oft auch über die Schnur hauen«.
   Nach der Schnur leben: unter Einhaltung des rechten Maßes, der gesellschaftlichen und sittlichen Normen leben.
   Von der Schnur zehren: vom Grundstock seines Vermögens – und nicht nur von den laufenden Einkünften – zehren. Diese Redensart begegnet uns bereits am Ende des 13. Jahrhunderts in den Marienlegenden aus dem ›Alten Passional‹ (herausgegeben von H.-G. Richert, ATB 64, [1965], XX, 32):
   alsô lange er umme fuor,
   und vertet (Var.: verzert,
   verzerte) von der snuor,
   unz (bis) er wart metalle blôz.
Die Redensart bezieht sich auf die frühere Gewohnheit, als Rücklage für Notzeiten Geldstücke auf eine Schnur aufzureihen. Zu diesem Zwecke durchbohrte man die Münzen oder versah sie mit einer Öse. Wer von seiner Schnur zehrte, verringerte sein Vermögen, geriet in Armut. In diesem Sinne sagt man obersächsisch und erzgebirgisch von einem armen Mann: ›Dar muß vun der Schnur zehrn‹. Zuweilen ist die Redensart gleichbedeutend mit der Redensart ›Von der Hand in den Mund leben‹:
   »Wo will aber ein faulentzer diese 3 pfennig nehmen, der nichts begehrt zu erwerben, sondern immer auff der bärnhaut liegt und aus der schnur zehret?«(Creidius: ›Nuptialia‹ II, 1652, 277). Entsprechend gebraucht man heute noch im Siegerland: ›van de Schnur lewe‹.
   Bei der Redensart Es geht wie am Schnürchen: es geht reibungslos, flott vonstatten, kann man an den Rosenkranz denken, an dem Katholiken ihre Gebete abzählen und dessen Perlen wie von selber durch die Hand gleiten. Deshalb sagt man in der Kölner Mundart: ›Dat muß immer förangohn wie de Schnur am Rusekranz‹. Nicht weniger wahrscheinlich ist jedoch die Deutung, daß sich diese Redensart auf die Schnüre des Puppentheaters bezieht, an denen der Spieler seine Puppen nach seinem Willen bewegt. Man denke an den heute noch gebräuchlichen Schnürboden im Theater; vgl. ›Drahtzieher‹. Die auffällige Verwendung der Diminutivform erklärt sich vielleicht aus einer älteren Wendung ›Es geht wie an Schnüren‹. Auf die Schnüre des Puppentheaters nimmt Murner Bezug, wenn er in seiner ›Narrenbeschwörung‹ schreibt:
   Er hat ir stimmen an der schnier,
   Ein jeder sunst syn ampt verlier
   (ed. M. Spanier, Neudruck deutsche Literatur-
   Werke 119-124, 1894).
Dagegen ist bei den folgenden Worten Kants (Sämtl. Werke, ed. G. Hartenstein, 1838ff., Bd. X, 193) an den Rosenkranzzu denken: »der gemeine Mann hat das Mannigfaltige, was ihm aufgetragen wird, gemeiniglich besser auf der Schnur, es nach einer Reihe zu verrichten und sich darauf zu besinnen«.
   Einen schnüren oder in die Schnur nehmen: ihm Geld abnehmen, ihn in die Enge treiben, übervorteilen. Die Redensarten leiten sich her von dem Handwerksbrauch der Maurer und Zimmerleute, denjenigen, der den Bau zum Zwecke der Besichtigung betritt, mit der Meßschnur einzufangen und ihm ein Lösegeld bzw. Trinkgeld abzuverlangen. Obersächsisch- erzgebirgisch ›Wenn sa mich a wing geschnirt hötten, do hött ich ver Fraad wos zun Besten gaam‹.
   Das geht über die Hutschnur Hutschnur.
• E. WEIß: Die Entdeckung des Volks der Zimmerleute (Jena 1923); L. RÖHRICH und G. MEINEL: Redensarten aus dem Bereich von Handwerk und Gewerbe, in: Alemannisches Jahrbuch (Bühl/Baden 1973).}
Über die Schnur hauen. Zimmerleute bei der Arbeit, im Hintergrund Kaiser Maximilian, Holzschnitt von Hans Schäuflein (?), ca. 1492-1540, aus dem »Weißkunig«.

Das Wörterbuch der Idiome. 2013.

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