Stiefel

Stiefel
Einen (guten, tüchtigen) Stiefel vertragen (können): viel Alkohol vertragen können, holsteinisch auch in der Form bezeugt: ›en gooden Stevel supen‹; eine besonders niederdeutsch geläufige Redensart, die auf die seit dem 16. Jahrhundert bezeugte Stiefelform von Trinkgläsern zurückgeht: »ein glass, was geformiert wie ein stiffel« (Thomas und Felix Platter, Zur Sittengeschichte des 16. Jahrhunderts [1529]; bearbeitet von Heinrich Boos [1878]; »Ja, sie soffen aus gestifleten Krügen« (Johann Fischart, Geschichtklitterung [1575], Neudruck, S. 123). In älterer Zeit haben vielleicht wirkliche Stiefel als Trinkgefäße gedient. Um 1030 heißen im ›Ruodlieb‹, dem ältesten Abenteuer- und Ritterroman Deutschlands, ein paar, wie es scheint, lederne Weinflaschen, die lobpreisend dargeboten werden, im Scherze Stiefel. Im ›Theatrum diabolorum‹ von 1569 ist bezeugt (449b): »Man seufft auß Theereimern, Hüten, Schuen«. Es gibt zahlreiche ätiologische Ursprungsanekdoten der Redensart 1860 erzählt G. Pfarrius in dem Gedicht ›Der Trunk aus dem Stiefel‹, wie sich Ritter Boos von Waldeck dadurch, daß er einen Kurierstiefel auf einen Zug leert, das schöne Dorf Hüffelsheim ertrinkt. Dieselbe Rolle spielte der Stiefel bei dem berühmten ›Trunk von Rothenburg‹, durch den der Bürgermeister 1631 die von Tilly eingenommene Stadt rettete. Nach Ansicht des Berliner ›Freimüthigen‹ (1806, Nr. 71) soll ein Geistlicher an der Tafel Augusts des Starken, nachdem alle anderen Anwesenden unter den Tisch getrunken waren, sich seinen Stiefel mit Wein haben füllen lassen und ihn auf einen Zug ausgetrunken haben. Eine andere Anekdote berichtet, Bassompierre, der 1602 von Heinrich IV. als Gesandter in die Schweiz geschickt wurde, habe als Begrüßungstrunk für die dreizehn Kantonsabgesandten seinen Stiefel, der dreizehn Flaschen Wein faßte, geleert.
   Unter den barocken Trinkgefäßen waren solche in Form eines Stiefels, in die ein volles Quart Wein ging. Sie waren hauptsächlich in Schwaben gebräuchlich Seit dem Anfang des 18. Jahrhunderts wird aus Stiefeln nur noch Bier getrunken. Von einem Betrunkenen sagt man, er habe Einen gehörigen Stiefel ( trinken). In negativer Bedeutung findet sich Stiefel in zahlreichen Redensarten Einen Stiefel zusammenreden: Unsinn reden, ist mundartlich weit verbreitet.
   Redewendungen wie Seinen Stiefel fortmachen: unentwegt, unkritisch etwas fortsetzen, kommen im 18. Jahrhundert auf, zuerst in der Form Seinen Stiefel gehen. Hier entspringen übertragene Wendungen, die das Handwerksmäßige und Geistlose hervorkehren, so schon 1752: »er predigt dir ... seinen Stiefel weg, daß es eine Art hat« (G.W. Rabener, Sämmtl. Schriften 3, 44). In Gerhart Hauptmanns ›Vor Sonnenuntergang‹ heißt es: »Man arbeitet eben seinen soliden Stiefel fort«.
   Als Ausdruck für Dummheit, Unsinn ist Stiefel mundartlich weit verbreitet: »Ein Weiberleut redet oftmals einen Stiefel zusammen« (A. Schott, Seltsame Leut [1914], 10).
   Einen Stiefel arbeiten, schreiben, spielen bedeutet soviel wie: schlecht. Der Musiker Joseph Joachim (1831-1907) schreibt in einem Brief (herausgegeben von H.J. Moser, Bd. I, S. 119): »Der schöne Stiefel (kennst Du den Ausdruck für schlechte Schreibweise?) paßt zu den Schuhen, die ich dir schicke«.
   Wie in der Redensart ›einen Stiefel vertragen‹ ist Stiefel oft auch in anderer Anwendung eine Mengenbezeichnung: Sich einen gehörigen Stiefel einbilden: eine viel zu hohe Meinung von sich haben.
   Das zieht einem die Stiefel aus oder Das ist zum Stiefelausziehen sind Ausdrücke der Kritik, des scheinbaren Entsetzens oder gespielter Verzweiflung beim Anhören schlechter oder falsch gespielter Musik. Gestiefelt und gespornt: völlig ausgerüstet, reisefertig, eine alliterierende Formel, oft auch als Mit Stiefeln und Sporen belegt. Luther schreibt vom Buch Salomonis: »Es sollte völliger sein, es hat weder Stiefeln noch Sporn, es reitet nur in Socken«. Weder Stiefel noch Sporen haben: unvollständig sein.
   In Shakespeares ›All's Well That Ends Well‹ heißt es: »You have made shift to run into't, boots and spurs and all«.
   Stiefel muß sterben ist eine Redensart, die nach einer ätiologischen, das heißt ad hoc erfundenen Erzählung auf ein geschichtliches Ereignis zurückgeht: Im Jahre 1533 kam der Pfarrer Stiefel zu Luther und erzählte ihm, der Weltuntergang stehe nahe bevor, er habe es durch Berechnungen untrüglich festgestellt. Der Reformator ließ sich nicht überzeugen, desto besser gelang dies Stiefel bei den Bauern, die nun alles verzehrten und vergeudeten, was sie besaßen. Als nun der Weltuntergang ausblieb, ergriffen die zornigen Bauern den Pfarrer und führten ihn gebunden nach Wittenberg, wo sie seine Bestrafung verlangten. Auf dieses Ereignis dichtete ein Student ein Lied, das schon bald zum Studentenlied wurde, heute jedoch, nachdem das ursächliche Ereignis vergessen wurde, in der Umdichtung gesungen wird:
   Stiefel muß sterben, ist noch so jung, jung, jung!
   Wenn das der Absatz wüßt, daß Stiefel sterben müßt.
Die Strophe ›Stiefel muß sterben ...‹ taucht zuerst in A.v. Arnims Sammlungen 1806 auf, ist aber auch später noch häufig als Kinder und Scherzlied belegt.
   Einem spanische Stiefel anziehen: ihm die Freiheit zwangsweise einschränken; französisch ›donner des brodequins au criminel‹ (veraltet). Der spanische Stiefel war ein zum Erzwingen von Geständnissen dienendes Folterinstrument, in das Waden und Knie eingezwängt wurden. Bei Goethe (›Faust‹ I, Studierzimmer) sagt Mephistopheles zum Schüler:
   Mein teurer Freund, ich rat Euch drum
   Zuerst Collegium Logicum.
   Da wird der Geist Euch wohl dressiert,
   In spanische Stiefeln eingeschnürt.
Etwas sind zwei Paar Stiefel: zwei Dinge sind ganz verschieden voneinander, haben nichts miteinander gemein: vgl. englisch: ›There are Elms and Elms‹; auch: ›That's another pair of shoes‹.
   Die Stiefel anhaben: die Herrschaft im Haus besitzen; vgl. französisch ›porter les bottes‹, Pantoffel.
   Sich etwas an den Stiefeln abgelaufen haben Schuh.
• W.E.: That's another pair of shoes, in: American Notes and Queries 10, 11 (1909), S. 252; J. STAVE: Seinen Stiefel fahren, in: ders.: Wörter und Leute (Mannheim 1968), S. 114-145.}
Einem spanische Stiefel anziehen. Holzschnitt: Folterung durch Beinschraube, aus: Milaeus, praxis criminalis, Paris, Colinaeus, 1541. Aus: Franz Heinemann: Der Richter und die Rechtspflege in
   der deutschen Vergangenheit (Monographien zur deutsche Kulturgeschichte, Bd. IV), Leipzig o.J., S. 65, Abbildung 62.

Das Wörterbuch der Idiome. 2013.

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