Brunnen

Brunnen
In den Brunnen fallen: zunichte werden; literarisch zuerst bei Hans Sachs bezeugt:
   nun ich hoff seiner freuden schallen
   werd im plötzlich in brunnen fallen.
Etwa zur gleichen Zeit wird die Redensart in einem Wiener Geschichtszeugnis des Jahres 1526 erwähnt; aber schon 1595 wird aus Preußen berichtet: »Haben die drey erbarn Rähte feine Ordenung in Kleidungen und Köstungen gemacht, ... sie ist aber bald in Brunnen gefallen«. Für Wien bezeugt um 1700 Abraham a Sancta Clara die Redensart mehrfach. In ›Judas der Ertzschelm‹ (1692) heißt es: »Ist meine Hoffnung in Brunnen gefallen«; in ›Etwas für alle‹ (1699): »Ihr Hoffnung fällt in Brunn«; ebenso in der ›Abrahamitischen Lauber-Hütt‹ (1721). In ›Reimb dich oder ich liß dich‹ (1708) schreibt Abraham: »Dafern mir nur die Gnad Gottes nit in Brunnen gefallen«, und in einer Erzählung in ›Huy und Pfuy der Welt‹ (1707): »Ist also der Ochsen ihr Traum in den Brunnen gefallen«.
   Diese ausgiebige Verwendung weist jedenfalls auf die vollkommene Volksläufigkeit der Redensart hin, die sich bis heute nicht geändert hat und sich auch auf die Mundarten erstreckt. Obersächsisch ist noch zu Beginn unseres Jahrhunderts geläufig: ›Die Partie is in'n Born gefallen‹, sie ist zu Wasser geworden. Es ist bezeichnend, daß die Redensart nicht etwa nur für konkrete Gegenstände, die einfach in Verlust geraten, angewendet wird, sondern mit Vorliebe für abstrakte: Die Hoffnung, der Hochmut, all das kann auch in den tiefen Brunnen fallen, aus dessen Tiefe es kein Wiederfinden oder Wiedergewinnen mehr gibt.
   Etwas in den Brunnen fallen lassen: eine Angelegenheit (Sache) (stillschweigend, heimlich) verschwinden lassen.
   Jetzt hab ich schon geglaubt, du bist in den Brunnen gefallen sagt man scherzhaft nach langem Warten.
   Aus einem Brunnen in den anderen fallen: aus einer Not in die andere geraten, Regen.
   In den Brunnen gesperrt sein: in die Enge getrieben sein, sich nicht mehr helfen können.
   Im Märchen bedeutet ein Verschwinden in der Brunnen-Tiefe kein Unwiederbringlich-Verlorensein. So erhält die Prinzessin im Froschkönig-Märchen nicht nur ihren goldenen Ball wieder, sondern erwirbt mehr, als ihr zunächst lieb ist (Kinder-und Hausmärchen der Brüder Grimm 1).
   Wenn andererseits der letzte Besitz des Hans im Glück buchstäblich in den Brunnen fällt (Kinder-und Hausmärchen der Brüder Grimm 83), so erscheint dieser Verlust dem Helden als eine Befreiung von der Last zeitlicher Glücksgüter.
   Den Brunnen zudecken (zuschütten), wenn das Kind (Kalb) hineingefallen ist: zu spät Maßregeln zur Abwendung eines Unglücks treffen. Der Ursprung dieser Redewendung liegt wohl in einer Schildbürgergeschichte. Ähnliche Erzählungen liegen auch den folgenden Redensarten zugrunde: ›Den Stall zuschließen, wenn das Pferd (die Kuh) gestohlen ist‹. Dem Gewohnheitstrinker, der sich zu spät zu nüchternem Leben bekehrt, ruft Hans Sachs zu:
   So du dann wilt den stal zu machen,
   so ist dir schon heraus die ku.
Auch in anderen Sprachen finden sich derartige Wendungen (vgl. ›Stall‹); lateinisch ›Accepto damno ianuam claudere‹ = erst nach erlittenem Schaden die Tür schließen; ›grege amisso saepta claudere‹ = das Gehege schließen, nachdem die Herde verloren ist; englisch: ›to shut the stabledoor, when the steed is stolen‹ = die Stalltür schließen, wenn das Roß gestohlen ist; französisch: ›fermer l'étable, quand les chevaux n'y sont plus, quand les vaches sont prises‹ = den Stall schließen, wenn die Pferde nicht mehr darin sind, wenn die Kühe gestohlen sind, Stall.
   In seinem großen Redensartenbild stellt P. Bruegel eine Variante unserer Redensart dar: ›Den Brunnen zudecken, nachdem das Kalb ertrunken ist‹; vgl. niederländisch ›Als het kalf verdronken is, wil men den put dempen‹.
   Eine unnütze Tätigkeit bezeichnet die nur mehr wenig volkstümliche Wendung Einen Brunnen neben der Quelle graben; wohl aus dem Lateinischen entlehnt: ›iuxta fluvium puteum fodit‹.
   Eine Sache an allen Brunnen erzählen: sie zum Dorf- oder Stadtgespräch machen; beim Wasserholen gingen früher an den Brunnen die Neuigkeiten von Mund zu Mund. Erzählte man etwas an allen Brunnen, so war es keinem mehr verborgen.
   Wasser in den Brunnen tragen: vergebliche Arbeit tun, zum Überfluß noch hinzufügen und wo es nicht nötig ist, Wasser, Krug, Jungbrunnen, Jungbrunnen.
• F. LAUCHERT: Sprichwörter und sprichwörtliche Redensarten bei Abraham a S. Clara (Bonn 1893), S. 18; R. HÜNNERKOPF: Artikel ›Brunnen‹, in: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens I, Spalte 1672-1685; H. SPINDLER: Der Brunnen im Recht (Diss. Heidelberg 1938); L. SCHMIDT: Wiener Redensarten. Der Brunnen der Vergänglichkeit, in: Das deutsche Volkslied 45 (1943), S. 61 f.; U. WIEGERS: Der Brunnen in der deutschen Dichtung (Diss. Bonn 1955); L. RÖHRICH: Sprichwörtliche Redensarten aus Volkserzählungen, in: Volk, Sprache, Dichtung, Festgabe für Kurt Wagner (Gießen 1960); D. ARENDT: Das Symbol des Brunnens zwischen Antike und Moderne, in: Welt und Wort 26 (1971), S. 286-297; H.-J. UTHER: Artikel ›Brunnen‹, in: Enzyklopädie des Märchens II, Spalte 941-950
Den Brunnen zuschütten, wenn das Kalb hineingefallen ist. Rundbild von Pieter Bruegel.

Das Wörterbuch der Idiome. 2013.

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